Verbrechen an der Menschheit
 
In vielen Untersuchungen und Darstellungen der Todesmärsche kommt manchmal offen, manchmal unterschwellig eine gewisse Ratlosigkeit zum Ausdruck: Warum diese Märsche? Warum auch noch das? Warum am Ende auch noch eine so offenkundig sinnlose Aktion wie die teilweise Evakuierung verschiedener Konzentrationslager? Für den Kriegsausgang hätte es keinen Unterschied bedeutet, ob etwa hier in Dachau 30.000 oder 37.000 ausgemergelte Gefangene befreit worden wären. Warum also wurden drei Tage vor der Befreiung fast 7000 Gefangene, die bis dahin durchgehalten und auf das Ende gehofft hatten, noch auf diesen Gewaltmarsch Richtung Süden geschickt, den viele nicht überlebt haben? Es ist völlig ausgeschlossen, dass die SS mit dieser Unternehmung noch irgendwelche ernsthaften Pläne verbinden konnte. Warum also fand all dies dennoch statt?
Ich denke, es ist wichtig, nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen. Denn es genügt nicht, an die Leiden der Häftlinge zu erinnern. Und es nutzt niemandem etwas, wenn wir bloß unser Mitgefühl zelebrieren. Wir müssen versuchen zu verstehen, was da geschehen ist – auch wenn diesem Verstehen Grenzen gesetzt sind. Unser Gedenken sollte am Ende nicht bloß auf ein hilfloses Kopfschütteln hinauslaufen. Wir müssen sagen können, was das Geschehene für uns, für die Welt bedeutet.
Meinen Versuch, hierzu etwas zu sagen, möchte ich mit dem folgenden Satz beginnen: Die Todesmärsche gehörten wohl so folgerichtig zu den Konzentrationslagern, wie die Konzentrationslager zu Nazideutschland gehörten. Das heißt: Die Konzentrationslager waren keine Randerscheinung der nationalsozialistischen Diktatur, sondern ihr Herzstück, ihr Zentrum. Und die Todesmärsche waren, so scheint mir, keine Zufälligkeit am chaotischen Ende des SS-Staats, sondern seine letzte Konsequenz.
Die Konzentrationslager dienten dem nationalsozialistischen Deutschland nicht in erster Linie als Gefangenenlager, dafür hätte man auch einfach die Gefängnisse vergrößern können,  und auch nicht in der Hauptsache als Orte zur Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge – das hätte man durchaus noch effizienter und profitabler organisieren können. Nein, die Konzentrationslager dienten spätestens seit 1938 vor allem als Laboratorien der Vision vom nationalsozialistischen Menschen: Es ging in den KZs darum, „das herzustellen, was es nicht gibt, nämlich so etwas wie eine Spezies Mensch, deren einzige ‚Freiheit‘ darin bestehen würde, die ‚eigene Art zu erhalten‘.“1 Das heißt, die Menschen sollten keine Individuen mehr sein, keine Personen mit eigenen Plänen, Hoffnungen, spontanen Ideen, individuellen Fähigkeiten und Vorlieben, sondern nur Gattungswesen, denen es einzig um die Erhaltung der Art geht, nicht um ein eigenes Leben. Wie Fliegen sollten sie sich vermehren und massenhaft zugrunde gehen, solange nur die Gattung der Fliegen weiter bestand.
Das jedenfalls war die ausdrückliche Vision Hitlers2: Es sollten Menschen erzeugt werden ohne individuelle Unterschiede, ohne Moral, die wie ein Mensch funktionierten, immer gleich, immer berechenbar. Jegliche Spontaneität, die ja genau das ausmacht, was wir gemeinhin unter Menschsein verstehen, sollte ausgeschaltet werden. Was nicht ins Bild von diesem Gattungswesen Mensch passte, sollte „ausgemerzt“, vernichtet werden. Das individuelle Leben und Sterben sollte so bedeutungslos sein, wie man eine Mücke zwischen den Fingern zerdrückt. Das Wort „Mord“ ist hierfür ein viel zu personaler Ausdruck. Es konnte und sollte getötet werden ohne jedes Ansehen der Person.
Das war das Ideal für die ganze nationalsozialistische Gesellschaft: die totale Herrschaft über die Menschen, die dabei ihr Menschsein Schritt für Schritt aufgaben. Die Konzentrationslager waren insofern das Herzstück dieser Gesellschaft, als man hier unter selbstgeschaffenen Bedingungen erproben konnte, was dabei alles möglich war. In den Konzentrationslagern war nicht nur alles erlaubt, sondern – mehr noch – alles möglich. Ziel war die experimentelle „Erschaffung einer anderen Welt“3.
Dies gelang in einem solch gespenstischen Maße, dass die Überlebenden der Lager sich später oft selbst fragten, ob sie das wirklich alles erlebt hatten – so irreal, so anders war diese Welt, dieses Konzentrationslageruniversum. Und für die umgebende Welt enthielt das KZ die Botschaft, dass eigentlich alle so unterworfen werden sollten wie die Häftlinge. Prinzipiell alle Individuen sollten überflüssig sein, austauschbar, jederzeit zerdrückbar wie Mücken. Alle sollten sich letztlich dem Ideal einfügen und zu bloßen Gattungswesen werden.
Und weil die Konzentrationslager sozusagen die Zentralinstitution Nazideutschlands waren, das Herzstück, in dem alles am konsequentesten durchgeführt werden konnte, war es dann auch undenkbar, dass die totale Herrschaft sich am Ende, zu Zeiten des Zusammenbruchs, selbst relativierte. Es lag im Wesen dieser Herrschaftsform, dass sie nicht einfach aufhören durfte. Militärhistoriker, die feststellten, dass der Krieg eigentlich 1943 oder spätestens 1944 für Nazideutschland verloren war, konstatieren oft mit Kopfschütteln, mit welcher Energie dennoch bis zum letzten Moment weitergekämpft wurde, mit welcher Entschlossenheit noch immer weitere Zerstörungen und unzählige Opfer in Kauf genommen wurden, wobei der Großteil der Bevölkerung sich in seiner verbissenen Hingabe nicht wesentlich von der Führung unterschied. Es war eben ein totaler Krieg.
Ebenso undenkbar war es offensichtlich, die totale Herrschaft in den KZs angesichts der heranrückenden Alliierten einfach zu beenden. Wir wissen natürlich, dass das vielerorts geschehen ist, dass es Auflösungserscheinungen gab, dass sich die SS mancherorts bereits aus dem Staub machte. Aber denkbar war das nicht. Denkbar war nur, dass man immer so weitermachte, solang einen niemand daran hinderte. Und in diesem Sinne sind die Todesmärsche tatsächlich die letzte Konsequenz des totalen Herrschaftsanspruchs über die Menschen. Lieber noch hätte die SS gewiss alle Lagerinsassen auf Todesmärsche geschickt. In der gegebenen Situation tat sie eben, was noch möglich war. Aufgeben, Zurückstecken war in dieser neu geschaffenen „anderen Welt“ nicht möglich, undenkbar. Zwi Katz, der auf dem Dachauer Todesmarsch dabei war, fasste es in die Worte: „Das mörderische System funktioniert bis zum letzten Moment.“4
Und Solly Ganor, ebenfalls Überlebender des Dachauer Todesmarsches, stellt in seinen Erinnerungen fest: „Selbst die SS-Wachen, meist ältere Männer, waren völlig erschöpft.“5 Das ist nicht nur ein bemerkenswerter Blick des KZ-Häftlings auf die Erschöpfung seiner Bewacher, sondern bringt das System der totalen Herrschaft auf den Punkt: Der Herrschaftsanspruch gilt umfassend, den Verfolgten wie den Verfolgern, den sogenannten Opfern wie den sogenannten Tätern. Im Programm der Zerstörung des Menschseins gibt es keine Ausnahme, keine Relativierung, kein Zurückstecken. Zerstört werden sollten alle.
Dies bringt mich zu einer abschließenden Überlegung. Seit den Nürnberger Prozessen hat für die nationalsozialistischen Verbrechen der Ausdruck „crimes against humanity“ Verbreitung gefunden. „Humanity“ hat mehrere Bedeutungen, sowohl die Übersetzung „Menschlichkeit“ ist möglich als auch die Übersetzung „Menschheit“. Es ist verstörend und wohl leider auch bezeichnend, dass sich für „crimes against humanity“ im Deutschen die völlig sinnwidrige Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingebürgert hat. Was ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sein soll, ist schlechterdings nicht nachvollziehbar. Dabei steht im Hintergrund des Ausdrucks crime against humanity eine wichtige Überlegung, die viel zu wertvoll ist, als dass man sie vergessen dürfte: nämlich dass es sich bei den nationalsozialistischen Verbrechen nicht einfach um Morde gehandelt hat, um Verbrechen an bestimmten einzelnen Menschen also, und auch nicht nur um Völkermord, um Morde an großen Teilen bestimmter Völker. Was da geschehen ist, so der Gedanke, war umfassender: Es betraf nicht einzelne Menschen, nicht einzelne Völker, es betraf vielmehr die ganze Menschheit. Was die Nazis und ihre Unterstützer ins Werk setzten, war ein Verbrechen an der gesamten Menschheit. Das Experimentieren mit der totalen Unterwerfung der Menschen, das millionenfache Auslöschen von Menschen einer sogenannten anderen „Rasse“ – das betrifft nicht allein diejenigen, die solcher Politik zum Opfer fielen, das zerstört etwas an der Menschheit insgesamt. Es ist etwas, das nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, etwas, das uns allen Schaden zufügt. Wir merken es, wenn wir darüber nachdenken, welches Grundvertrauen wir heute in die Menschen setzen können. Trauen wir heute den Menschen letztlich alles zu, auch die letzte Niederträchtigkeit? Ja, das tun wir. Halten wir heute letztlich alle Verbrechen für möglich, auch die irrwitzigsten Vernichtungsaktionen, auch die zerstörerischsten Kriege? Ja, all das halten wir für möglich. Das wird nie wieder aus der Welt zu schaffen sein. Was die Nazis und ihre Unterstützer ins Werk gesetzt haben, war wahrhaft ein Verbrechen an der Menschheit.
Wir wissen heute, wenn wir Überlebenden aus den Konzentrationslagern begegnen, Überlebenden der Todesmärsche, dass sie Erfahrungen machen mussten, die wir niemals wirklich verstehen und nachvollziehen können, dass wir diesen Erfahrungen nur mit größtmöglichem Respekt begegnen können. Aber zugleich sollten wir uns klar machen, dass wir dennoch auf einem gemeinsamen Grund stehen, dass die Überlebenden der Lager nicht irgendwelche fremden Anderen sind, mit deren Erfahrungen wir nichts zu tun haben: Wir sind alle miteinander Menschen, und die Verbrechen gegen die Menschheit wurden uns allen zugefügt. Wir gehören zusammen und brauchen einander. Nur wenn wir uns als eine Menschheit denken, können wir den Ideologien der Herrschaft der Stärksten, des Kampfes ums Überleben etwas entgegensetzen. Solange wir noch die Interessen der eigenen Gruppe, der eigenen Nation über die der anderen stellen, befinden wir uns weiter in dem Denken, das die Nazis nicht erfanden, das sie aber zu einem ersten grauenhaften Höhepunkt getrieben haben. Solange wir auf andere Völker, Ethnien, Minderheiten herabblicken und uns gegen sie meinen durchsetzen zu müssen, befinden wir uns weiter in diesem Denken. Nur wenn wir uns als eine Menschheit verstehen lernen, können wir den Schaden, der uns allen zugefügt wurde, zu überwinden beginnen. Nur wenn wir uns als Menschheit verhalten, zusammenstehen und kooperieren, besteht Hoffnung darauf, dass die Wunden irgendwann einmal heilen.
 
 
 
Anmerkungen
1 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986 (Erstausg. New York 1951), S. 907.
2 Vgl. Henry Picker (Hg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942, Bonn 1951, S. 347, 349.
3 Harald Welzer, Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, Tübingen  1997, S. 10.
4 Zwi Katz, Von den Ufern der Memel ins Ungewisse. Eine Jugend im Schatten des Holocaust, Zürich 2001, S. 133.
5 Solly Ganor, Das andere Leben. Kindheit im Holocaust, Frankfurt am Main 1997, S. 214.
 
Ansprache beim Gedenkstein für den Todesmarsch, Dachau, 3. Mai 2014