Worauf warten wir noch?
Ein Zwischenruf zum fünften Jahrestag der Wahl von Papst Franziskus am 13. März 2013
Wo andere vor ihm die Reinheit der Lehre und das christliche Copyright diverser Positionen bewahren wollten, sagt Franziskus unumwunden, dass ihm solidarische Atheisten gelegentlich lieber seien als scheinheilige Katholiken. Das ist unbequem, umstürzlerisch und radikal christlich. Und Franziskus erlebt das Schlimmste, was ihm dabei passieren kann: Er wird von seinen Mitbrüdern im Bischofsamt dafür lauwarm gelobt.
Theologie und Christsein
nach der Schoa:
Wie umgehen mit dem
christlichen Erbe
der Mittäterschaft?
Hannah Arendt, die 1941 aus Holocaust-Europa fliehen konnte und seitdem in New York lebte, kam nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder nach Europa zu Besuch, mit einem wachen Gespür für alles, was ihr in den Menschen dort begegnete. Bei ihrem ersten Nachkriegsbesuch in Westdeutschland im Winter 1949/50 befremdeten sie vor allem der „allgemeine Gefühlsmangel, [...] die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird“ und die „Weigerung, sich dem tatsächlichen Geschehen zu stellen und es zu begreifen“. Mit dem „tatsächlichen Geschehen“ meint sie natürlich die Verbrechen des Nationalsozialismus, an denen sich Hunderttausende aktiv mordend und Millionen jubelnd und unterstützend beteiligt hatten. In der Weigerung oder der Unfähigkeit, sich dem zu stellen, wurzelt nach Arendts Auffassung die verbreitete Gefühllosigkeit und Herzenshärte der frühen Nachkriegsjahre.
Gut zehn Jahre später, in den frühen sechziger Jahren, gewinnt Arendt einen anderen Eindruck: Nun fallen ihr die „zur Schau getragenen und reichlich publizierten Schuldgefühle“ auf – allerdings nicht bei der Generation derer, die im Nationalsozialismus erwachsen waren, sondern vor allem bei den Spätergeborenen, bei den jungen Leuten der 60er Jahre. Hannah Arendt sieht darin keinen Fortschritt; es ist ihr klar, dass solche Gefühle „gar nicht echt sein können“, denn, so schreibt sie: „Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, [es] erzeugt allenthalben ‚erhebende Gefühle‘ und wird gern gesehen.“
Von der Jugend hätte Arendt andere Gefühlsreaktionen erwartet als gerade Schuldgefühle. Sie schreibt: „Von allen Seiten und in allen Bereichen ist die deutsche Jugend heute mit Männern konfrontiert, die in Amt und Würden, in maßgeblichen Positionen und öffentlichen Stellungen das Gesicht des Landes bestimmen und in der Tat sich einiges haben zuschulden kommen lassen, ohne sich offenbar schuldig zu fühlen. Die normale Reaktion einer Jugend, der es mit der Schuld der Vergangenheit ernst ist, wäre Empörung.“
Hieran knüpft sich meine Ausgangsfrage: Warum kam es damals so selten zur „normalen Reaktion“, zur Empörung? Warum erging man sich stattdessen in falschen Schuldgefühlen, falscher Feierlichkeit und falscher Betroffenheit? Warum bevölkerten nach dem Krieg meist nicht die Täter die Psychiatrien, sondern in weit höherem Maße deren Kinder und Enkel? Und warum sind wir auch heute noch kaum in der Lage, uns der Geschichte und den damit verbundenen Zukunftsaufgaben entschlossen und unverkrampft zu stellen? Warum erklären einem 15-jährige Jungen bei einem Gedenkstättenbesuch, dass sie „damals“ noch nicht gelebt hätten und deshalb nicht schuldig sein könnten? Was ist da schief gegangen? …